Die Sage vom Schattenwandler



In einer Zeit, in welcher die alten Nomadenvölker im Süden noch über die Steppen zogen, berichtete man an den Lagerfeuern in kalten Nächten von allerlei absonderlichen und merkwürdigen. Die meisten dieser Geschichten waren nichts mehr als Geschwätz vom Dattelwein berauschter Männer - doch will ich von einer dieser Sagen berichten. Eine Sage, die, wie meine Nachforschungen ergaben, mehr als nur ein Körnchen Wahrheit zu beinhalten scheint.

So erzählten die Alten, dass nicht nur Steppenwölfe und Riesenskorpione des Nächtens durch den entlegenen Süden zogen, sondern dass in der verborgenen Oase Ghi'Ahlit ein Zauberer lebte. Ein Mann, so alt und verderbt durch die dunklen Künste, dass seine größte Freude darin bestand, die Geschöpfe der Natur unnatürlich zu verändern. Von aufrecht gehenden Stieren war die Rede, von Löwen mit Skorpionschwänzen und Fledermausflügeln und von Riesenechsen mit den Köpfen einer Schlange, einer Ziege und eines Tigers an unnatürlich langen Hälsen.
Irgendwann langweilte ihn jedoch das Experimentieren mit Tieren und er begann seine missgebildeten Kreaturen nach Norden zu schicken. Dort hatten sie den Auftrag, Menschen aus den Oasen, Dörfern und Lagern zu entführen, um sie ihrem Herrn zu bringen. So verschwanden in kalten langen Nächten immer wieder einzelne Männer, Frauen und Kinder, die nie wieder gesehen wurden.
Diese unheimlichen Vorgänge währten über drei Jahre, bevor der junge Stammesführer Shirak Al Bashir beschloss, die geheimnisvolle Oase im Süden zu suchen, um den Treiben des Alten ein Ende zu bereiten. Er nahm die tapfersten Krieger seines Stammes und alle schworen einen heiligen Eid, dass sie nicht eher zu ihren Familien zurückkehren würden, bis sie den Kopf des schrecklichen Zauberers von dessen Rumpf geschlagen hätten.
So zogen sie 33 Tage durch die Wüste, bekämpften die absonderlichsten und grausamsten Kreaturen bis sie schließlich in Ghi'Ahlit ankamen. Lediglich drei Krieger, darunter Shirak Al Bashir lebten noch, um ihren Schwur zu erfüllen und so traten sie mit gezogenen Schwertern hasserfüllt dem Zauberer gegenüber. Doch jener bediente sich seiner unheimlichen Kräfte und verwirrte den Geist der Kampfgefährten Al Bashirs, so dass diese sich aufeinander stürzten und sich gegenseitig die Klingen in den Leib rammten. Von Entsetzen gepackt, erkannte der junge Stammesfürst, dass er keine Zeit zu verschwenden hatte und noch während der Zauberer die knochigen Hände für eine erneute Beschwörung in den nachtschwarzen Himmel reckte, warf Shirak sein Schwert mit aller Kraft und all seinem Zorn.
Mit weit aufgerissenen, ungläubig blickenden Augen sank der Alte tödlich getroffen zu Boden und hauchte sein Lebenslicht aus. Das Grauen hatte durch die entschlossene Tat eines tapferen Kriegers sein Ende gefunden. Doch kein Triumph, keine Freude erwärmten diesen in jener schicksalhaften Nacht. Lediglich Trauer und ein Gefühl kalter Leere fanden Einlass in dessen Herz. Die Schatten schienen länger zu werden und die Nacht immer kälter. Die Kraft schien aus dem geschundenen Körper des jungen Mannes in die Dunkelheit zu entweichen. Seine Beine knickten ein und noch während er auf die Knie sank, glaubte er einen Schatten in der Nacht zu erkennen, der von den schwach leuchtenden Öllampen in der Oase nicht erhellt werden konnte. Fast zärtlich schien ihn dieser Gestalt gewordene Schatten zu umarmen und zu spät kam die Erkenntnis, dass seine Schwäche dieser unheilbringenden Umarmung entsprang. Schon am sandigen Boden liegend, zog er mit großer Anstrengung seines Willens den gebogenen Dolch aus der Scheide und wollte ihn mit letzter Kraft in den Körper des unheimlichen Feindes rammen. Doch wie groß war sein Entsetzen, als die Waffe einfach durch das Schattenwesen hindurch schwang.
Eine Träne fiel in den Sand der Oase Ghi'Ahlit, als ihm der Dolch aus der Hand glitt. Noch während seine letzten Gedanken bei seiner jungen Frau weilten, verlor er das Bewusstsein. Shirak Al Bashir sah nicht mehr, wie sich der Schatten von ihm löste und in der Dunkelheit der Nacht verschwand.

Soweit die Geschichte des jungen Stammesführers. Als er und seine Männer nicht mehr zurückkehrten, konnte sich der restliche Stamm nicht mehr lange eigenständig halten und ging in den anderen Völkern des Südens auf. Die Entführungen hatten geendet und niemand forschte mehr nach den Verschollenen, so dass die Ereignisse bald in Vergessenheit gerieten und nur noch von den Ältesten am Lagerfeuer weiter erzählt wurden.

Nun begab es sich viele Jahre später, dass ein Kriegszug seiner Heiligkeit Maja tief in den Süden vorstieß. Meine Nachforschungen ergaben, dass hierbei auch die Oase Ghi'Ahlit mit den Überresten einer kleinen alten Siedlung gefunden wurde. Da von jenem Kriegszug in den Süden kaum Aufzeichnungen existieren, konnte ich nicht viel Genaues herausfinden. Jedoch scheinen auch die alten Aufzeichnungen des geheimnisvollen dunklen Magiers gefunden worden sein. Auf verschlungenen Wege gelangten sie wohl nach Ruzewja, wo sie den Gerüchten zu Folge auf der Seite des ehemaligen Vampirkönigs Vladimir zu allerlei dunklen Forschungen genutzt wurden. Insbesondere die Geschichten von lebenden Schatten, geboren aus Angst und Qualen, sich von der Lebenskraft Sterblicher ernährend, scheinen mit jenen Ereignissen aus grauer Vorzeit in Zusammenhang zu stehen und sind sicherlich von lohnendem Interesse für weitere Nachforschungen.

Magister Marcus Zarkonnen,
Lehrer für Menschenforschung und Geschichte an der Gottkaiserlichen Universität zu Katschirg.